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Customer Centricity oder Standardisierung? Insurtech oder Versicherungen?

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Von Hans-Peter Holl. In den Markt für Versicherungs-Software ist in den letzten Monaten Bewegung gekommen. Mit ihren über Technologiegenerationen gewachsenen, selbstentwickelten, monolithischen IT-Systemlandschaften sind die deutschen Versicherungsunternehmen eine attraktive Zielgruppe auch für ausländische Anbieter von Bestandsführungssystemen – trotz der international gefürchteten Regulatorik des deutschen Versicherungsmarktes. Viele etablierte deutsche Anbieter bekommen zunehmend Konkurrenz aus dem Ausland, fusionieren oder werden aufgekauft. Das US-Unternehmen Guidewire beispielsweise drängt seit Jahren in den Markt. Tia Technology als größter internationaler Wettbewerber von Guidewire möchte aus Dänemark verstärkt im deutschen Markt Fuß fassen. Darüber hinaus kaufen sich Fadata durch Impeo und Keylane durch Geneva-ID ein. Zuletzt hat hier der Erwerb von Novum durch RGi Ende Juli für Aufmerksamkeit in der Fachpresse gesorgt.

Warum Insurtechs nicht auf Standardsoftware setzen

Insurtech Quartett Folge mit Hans-Peter HollNun könnte man meinen, dass Insurtechs von Anfang an auf Standardlösungen setzen, um nicht in Zukunft durch schwer zu wartende und nicht zeitgemäße, unflexible IT-Systeme ausgebremst zu werden. Das Gegenteil ist der Fall. Das zeigt ein Blick auf die neuen Start-ups rund um Lemonade, Coya, Emil, Toni oder beispielsweise One. Interessanterweise nutzen die allerwenigsten Insurtechs eine Standardsoftware. Das machen nur diejenigen Start-ups, die einem etablierten Versicherungskonzern angehören wie etwa Adam Riese oder Friday. Stattdessen setzen sie auf das, was Versicherer seit Jahrzehnten tun: Sie entwickeln ihre Software selbst!

Warum wiederholen Insurtechs also das Vorgehen der etablierten Versicherungen, die aktuell Innovationen eher verhindern als fördern? Ein Grund könnte sein, dass Insurtechs die regulatorischen Zwänge und auch die Notwendigkeit einer standardisierten, offenen IT-Architektur mit Blick auf mögliche Kooperationspartner oder auch hinsichtlich BiPRO schlicht unterschätzen. Nach dem Motto: „Schaden kommt, wenn Schaden kommt!“ werden Prozesse erst implementiert, wenn benötigt. Das ist sicherlich eine Seite der Medaille, wie meine Gespräche mit Insurtechs immer wieder zeigen.

Customer Centricity oberstes Gebot für Insurtechs

Viel wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Herangehensweise der Insurtechs. Sie denken vom Kunden zum Unternehmen, Stichwort: Customer Centricity. Im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit steht die User Experience für potenzielle Kunden, quasi „technology follows user experience“. Da haben sie den Versicherern einiges voraus. Es wird vom Frontend zum Backend gedacht. Erst müssen ein Business Case und eine gute User Experience gewährleistet werden. Alles andere folgt nachgelagert. Das war auch eine der wichtigsten Erkenntnisse auf der Magic of Innovation (MOI) kürzlich, einer Veranstaltung in Wien, bei der auch finletter Medienpartner war.

Versicherer setzen auf Standardisierung

Die Traditionsunternehmen hingegen gehen mehr und mehr in Richtung Standard. Das ist natürlich auch vernünftig, weil die veraltete Versicherungs-IT sie daran hindert, neue Produkte und Innovationen schnell im Markt zu implementieren und am Puls der Zeit zu bleiben (Time-to-Market). Aber: Der Austausch von Bestands- und Satellitensystemen ist eine Herkulesaufgabe, die sehr viele Ressourcen über einen langen Zeitraum bindet. Es besteht die Gefahr, dass sich Versicherungsunternehmen in den nächsten Jahren statt um den Kunden um sich selbst und ihre Prozesse drehen.

Wer hat nun Recht?

Die Antwort lautet ganz klar: beide! Das eine wird nicht ohne das andere erfolgreich funktionieren. Die neuen Akteure haben spannende Produkte entwickelt. Um bestehen zu können, werden sie mit ihrer IT in den verkaufsnachgelagerten Prozessen jedoch aufholen müssen. Denn wie das Wort „Versicherung“ schon sagt, müssen sich die Kunden „sicher“ fühlen. Das bedeutet auch, im Schadenfall eine exzellente User Experience und den notwendigen Service zu bieten sowie allen regulatorischen Ansprüchen des deutschen Marktes zu genügen. Erfolgreich bleibt, wer den Mix aus Customer Centricity und Standardisierung im Unternehmen beherrscht.

Versicherer müssen prüfen, inwieweit sie neue Produkte, die vom Kunden her gedacht sind, auf modernen IT-Systemen – unabhängig von der bestehenden Systemlandschaft – entwickeln und auf den Markt zu bringen können, während die monolithischen Systeme bei bestehenden Produkten schrittweise abgelöst werden können.

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