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Produktrisiken schon im Innovationsprozess berücksichtigen

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Von Hendrik Emrich

Warum der Neuer Produkte Prozess (NPP) und der Minimum Viable Product (MVP) Ansatz kein Widerspruch sind und wie man die Regulatorik als Bank vom vermeintlichen Innovationshemmnis zum echten Asset machen kann: Für Banken ist durch die Coronakrise die Notwendigkeit, mit neuen, innovativen Produkten auf Basis möglichst risikoarmer und schlanker Geschäftsmodelle in immer kürzeren Zyklen auf den Markt zu kommen, erheblich gestiegen. War schon zuvor die Time-to-Market im Rahmen des „Neuer Produkte Prozesses“ nach MaRisk kein einfaches Thema, so wird der Druck, noch schneller und noch flexibler neue Finanzprodukte und Services zu testen und später zu lancieren, durch die Pandemie potenziert.

Bundestag lehnte Sandbox für Fintechs im Juni 2020 ab

Wie aber geht die Anforderung, Risiken neuer Innovationen von vornherein zu verstehen und zu berücksichtigen, mit einer geforderten schnellen Abfolge neuer Innovationen einher? Benötigt nicht gerade ein kreativer Innovationsprozess auf Basis des Design Thinking bzw. Minimum Viable Product Ansatzes, die vorsehen, für halbfertige Ideen und Produkte schnell Feedback im Markt einzuholen, eher eine Art „Sandbox“.

Diesen Begriff gibt es tatsächlich, denn bis heute können Fintechs bei der britischen Finanzmarktaufsicht FCA beantragen, in die Sandkiste „aufgenommen“ zu werden. Dies um Produktinnovationen geschützt vor regulatorischen Leitplanken und sonstigen „Störfaktoren“ im Markt zu testen und nicht gleich mit unüberwindbaren Hürden konfrontiert zu werden.

Der in einigen Ländern erfolgreich betriebene Schutz wurde hierzulande am 16. Juni 2020 vom Finanzausschuss des Bundestags abgelehnt. Das Spannungsfeld aus der politischen Diskussion kommt auf anderer Ebene auch im angeblichen Widerspruch zwischen Regulatorik (NPP) und Innovation (Minimum Viable Product) zum Vorschein.

Hendrik Emrich Gastbeitrag im finletter zum Thema Innovationskultur in Banken

Dies bedarf einerseits einer genauen Begriffsdefinition und Aufklärung sowie andererseits der Füllung von digitalen Buzzwords mit echten Inhalten. Hierbei sind Argumente beider „Lager“ zu berücksichtigen. Denn ähnlich wie kein einziger Kunde neu gewonnen wird, wenn die Bank ihre Regulatorik übererfüllt, kann es sich dieselbe Bank nicht leisten, bei ihren Innovation Labs die Risiken auszublenden. Damit die notwendige Diskussion nicht in einen „Glaubenskrieg“ endet, sondern sich beide Lager befruchten, haben wir 5 Anforderungen an einen „NPP-konformen MVP-Prozess“ erarbeitet:

  1. Mehr Sandkiste, weniger Korsett: Wie die Sandbox häufig mit einem rechtsfreien Raum verwechselt wird, so werden auch die regulatorischen Anforderungen zu NPP oft falsch interpretiert. Aus Beratungsprojekten und Gesprächen mit Finanzinstituten haben wir den Eindruck gewonnen, dass sich viele Banken in Bezug auf NPP das Leben unnütz schwer machen. Aus schierer Unsicherheit werden vermeintliche regulatorische Anforderungen eher übererfüllt als – ähnlich wie beim MVP-Ansatz gefordert – nur das Mindestmaß erfüllt.
  2. Alles eine Frage der Perspektive: Agile Frameworks wie MVP geben eine Methodik vor, wie Banken auf Projektebene eine Innovationskultur schaffen können. Auf dieser Mikroebene setzt die NPP-Regulatorik jedoch eben nicht an. Die Aufsicht fordert vielmehr, dass Banken die Risiken (nicht nur die Chancen) von Innovationen verstehen und deren Auswirkungen auf die Gesamtbank und das Risikomanagement im Blick haben. Wenngleich natürlich bei Produktinnovationen immer einzelne Fachbereiche mehr als andere involviert sind, so ist die Regulatorik – anders als MVP – immer als übergeordnetes Thema zu sehen.
  3. Weniger ist mehr: Es ist ebenso ein Trugschluss anzunehmen, NPP würde pragmatische und flexible Lösungen ausschließen. Banken sollten dies dann aber auch nicht tun. NPP fordert zwar die Dokumentation eines Risikokonzepts ein, aber nicht, wie dieses im Detail auszusehen hat. Ganz im Gegenteil, es geht lediglich darum, ein Konzept zu entwickeln, wie neben den Fachbereichen auch die „Stabsabteilungen“ Risiko-Controlling, Compliance und Revision einzubinden sind. NPP ist eben nicht dazu gedacht, gute Ideen, die möglicherweise echte Kundenprobleme lösen, im Keim zu ersticken.

  4. Leitplanken sind nichts neues für agile Projekte: Es ist eine Mär und vermutlich auf mangelnde Erfahrung vieler Banken mit agilen Projekten zurückzuführen, dass man sich bei Innovationsprojekten im rechtsfreien Raum ohne Restriktionen bewegt. Ganz im Gegenteil, es ist üblich und sollte bei jedem Projekt eingefordert werden, dass der Sponsor/Kunde die Leitplanken vorgibt. Diese können z.B. darin bestehen, dass das Projektteam zwar flexibel, agil und frei arbeiten kann, aber weder das Kernbankensystem hinterfragt noch „Gesetz gebrochen“ werden darf. Nichts anderes fordert auch der NPP-Ansatz.

  5. Cross-funktionale Teams lösen das Problem fast von selbst: Wie auf agilen MVP-Projekten üblich, sind Mitarbeiter aus möglichst vielen Fachabteilungen, wie Vertrieb, Marketing, Produktdesign, IT, Revision und eben auch Juristen im cross-funktionalen Team dabei. Somit sind i.d.R. schon früh im Innovationsprozess, idealtypisch in der Ideengenerierungsphase, mutmaßliche „Bedenkenträger“ eingebunden. Damit kann bei den meisten Features und Anforderungen an neue Produkte (nach unserer Erfahrung bei über 80%) sofort ein „regulatorischer Haken“ gesetzt und eine pragmatische Lösung gefunden werden. Dies steigert die Qualität von Produktinnovationen, ebenso wie die frühzeitige „Ablehnung“ der übrigen 20% der Feature Requests Banken viel Zeit und Budget spart. Die damit sichergestellte schnelle und pragmatische Beantwortung von rechtlichen bzw. regulatorischen Fragen stellt somit eine fast inhärente Berücksichtigung der NPP-Anforderungen dar.

Über den Autor

Nach vielen Jahren in Führungsposition in unterschiedlichen Banken und Versicherungen berät Hendrik Emrich seither die Finanzbranche als Coach bei Innovations- und Digitalisierungsprojekten. Um das neue agile Mindset und die digitalen Skills „in der Breite“ der Gesamtbank zu verankern, hat er im Herbst 2019 mit Digaroo ein E-Learning/EdTech-Start-up gegründet. Mithilfe interaktiver Videos werden Mitarbeitern in Banken und Finanzdienstleistern digitale und agile Skills vermittelt. Der Fokus liegt dabei auf „Learning by Doing“, d.h. über eine Verhaltensänderung der User werden spielerisch neue Lerninhalte durch praktische Übungen transferiert.

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